Drei gute Gründe, das Plektrum wegzuschmeißen

Chloe Marshall hat uns bereits einen großartigen Überblick über die Technik des Fingerpickings gegeben, sowie einige Ratschläge zur Verwendung eines Picks. Hier werde ich nun einige gute Gründe nennen, mit den Fingern zu üben und das Plektrum ganz wegzulassen. Übrigens, wenn du dein Akkordspiel (mit oder ohne Plektrum) üben möchtest, empfehlen wir dir unsere Gitarrenlern-App Uberchord.

Gitarrenpicks haben offensichtliche Vorteile. Sie tragen dazu bei, die Spielgeschwindigkeit zu erhöhen, einen klar definierten Ton zu erzeugen und die Lautstärke deutlich zu erhöhen, was gut ist, wenn man mit seinen Kumpels am Lagerfeuer klimpert. Man kann sie um den Hals tragen, um alle Welt daran zu erinnern, dass man Gitarrist ist. Und sie sind eine gute Ausrede, um ins Musikgeschäft zu spazieren, stundenlang Gibsons über Vintage-Röhrenverstärker zu spielen und mit dem Kauf eines oder zweier Plektren davonzukommen… Und doch spielen einige der weltbesten Gitarristen ohne Pick. Vielleicht können sie dich davon überzeugen, dass du ohne das Stück Plastik am besten bedient bist?

1. Der Daumen-Sound: Wes Montgomery

Mr. Montgomery war einer der besten und einflussreichsten Gitarristen aller Zeiten – aber wenn du dich nicht für Jazz interessierst, hast du vielleicht noch nie von ihm gehört. Er hatte enormes Swing-Gefühl, überragende Akkordarbeit und ein Ohr für Melodien. Doch sein charakteristischstes Merkmal war sein ganz besonderer Sound. Er erreichte ihn durch eine einfache Technik: Er spielte mit dem Daumen.

Er wurde in Indianapolis geboren und begann erst in seinen späten Teenagerjahren mit dem Gitarrespielen. Er arbeitete tagsüber und übte spät nachts zu Hause. Anfangs benutzte er ein Plektrum, aber damit hielt er seine Frau wach, also spielte er mit dem fleischigen Teil seines Daumens weiter, um leiser zu sein. Nach einer Weile bildete sich eine Hornhaut auf dem Daumen und der junge Wes hatte seinen charakteristischen Klang entwickelt.

Dieses Video zeigt Wes’ Beherrschung der Gitarre, seinen großen Daumen mit den ausgeprägten Gelenken und seine Angewohnheit, seine Hand auf dem Schlagbrett zu verankern, um ihm mehr Kontrolle zu verleihen. Es zeigt auch, wie er durch Variationen seiner Daumentechnik ganz unterschiedliche Klänge erzeugt. Wes hat drei Hauptarten zu spielen:

  1. Akkorde: Indem er seinen Daumen in einem flacheren Winkel zu den Saiten hält und ein leichtes, breites Schlagmuster verwendet, erzeugt Wes einen zarten, weichen Ton. Das ist ideal für die Akkordarbeit, bei der die Gitarre mit den anderen Instrumenten verschmilzt und der Musik Farbe und Textur verleiht.
  2. Melodisch: Bei 1:58 dreht er den Daumen nach innen in Richtung der Saiten, um präzisere Töne zu erzeugen. Die Schwiele auf seiner Haut gibt seinem warmen Klang die Präsenz, den Fokus und die Klarheit für das “Lead”-Spiel (Melodiespiel).
  3. Oktaven: Subtil, aber voller Kraft. So spielt Wes ab 2:45 seine charakteristischen Oktaven. Dabei spielt er die Melodie mit seinem Zeigefinger, verdoppelt die Töne mit dem kleinen Finger und dämpft alle unerwünschten Saiten mit der Unterseite seiner Finger ab. So kombiniert er zwei Töne mit dem Klang seines Daumens, der über die gedämpften Saiten gleitet, was dem Ganzen etwas Butteriges  hinzufügt.

Wes Montgomerys Sound ist rund, vollmundig und warm – perfekt für seine sanften, modalen Melodien. Es ist eine schwer zu beherrschende Technik, besonders für schnellere Passagen und für die Oktaven. Selbst Wes macht bei 5:34 einen Fehler, über den er aber charmant hinweglacht. Um wie Wes zu spielen, hilft es, schwere, flachumwickelte Saiten zu haben.

2. “Klauenhammer”-Rhythmus: Mark Knopfler

Als Kopf der berühmten Dire Straits braucht Mark Knopfler nicht groß vorgestellt zu werden. Er ist der Schöpfer unzähliger legendärer Soli und hat einen unverwechselbaren Sound, an dem man ihn sofort erkennt. Er ist Linkshänder, spielt aber eine normale, rechtshändige Gitarre und ist dafür bekannt, dass er mit den Fingern und nicht mit einem Plektrum spielt.

Als Mark in den 1960er Jahren in Northumberland mit dem Gitarrespielen begann, konnte er sich die Ausrüstung nicht leisten, um einer lauten Rockband beizutreten. Stattdessen spielte er in Folk-Bands, wo er sich den “Klauenhammer”-Stil aneignete: Der Daumen spielt die Begleitung auf den unteren Saiten, während Zeige- und Mittelfinger die Lücken auf den oberen Saiten ausfüllen; Ringfinger und Zeigefinger verankern die Hand am Instrument. Im Wesentlichen geht es bei dem Klauenhammerstil um Rhythmus. Er liefert eine Art klobige Beständigkeit für ein solides Rhythmusfundament.

Mark entwickelte diese Technik weiter, indem er die Position seiner Finger wechselte: Nun war der Daumen oben, um die hohen Töne zu spielen, und Mittel- und Zeigefinger lagen auf den unteren Saiten. Nachdem er seine Geschwindigkeit und Kontrolle ausgebaut hatte, prägte diese Fingerpicking-Technik einige der denkwürdigsten Soli des klassischen Rock, wie z.B. Sultans of Swing. Wenn sie gut trainiert sind, sind drei Finger besser als ein Pick!

Ein gutes Beispiel für diese Technik ist das legendäre Riff in “Money for Nothing”, das so klingt, als wäre es leicht zu spielen, in Wahrheit aber höllisch schwer zu meistern ist. Man kann die “Krallenhammer”-Haltung von Zeige- und Mittelfinger sehen, die sich mit dem Daumen abwechseln und vom Ringfinger-“Anker” stabilisiert werden. So kann Mark die Artikulation jeder Saite souverän kontrollieren, einige hervorheben und andere ausblenden, während er gleichzeitig den stampfenden Antrieb beibehält. Das verleiht ihm einen ausgeprägten Rhythmus und Sound, die das Riff wahrhaftig lebendig werden lassen.

3. Zauberei an der E-Gitarre: Jeff Beck

Jeff Beck ist nicht nur eine Gitarrenlegende, die mit den Größten gejammt und über fünf Jahrzehnte der Rockmusik beeinflusst hat. Er spielt auch auf eine einzigartige und flüssige Art und Weise, bei der er alle Finger benutzt, um sein Spiel so gut wie möglich gestalten zu können.

Er begann im London der 1960er Jahre und schloss sich bald den Yardbirds an, der Band, in der nicht weniger als drei Gitarrenlegenden spielten (Eric Clapton, Jeff Beck und Jimmy Page). In seinen frühen Tagen war sein Stil eher Blues-basiert, und er benutzte einen Pick. Aber als er in den 80er Jahren begann, seine eigene Richtung zu entwickeln, warf er sein Plektrum weg und griff auf Einflüsse aus Jazz, Electronica, World Music und anderen Bereichen zurück, um die Möglichkeiten der Gitarre wirklich auszuloten. Seine Fingerpicking-Technik ist ein wichtiges Element seiner klanglichen Freiheit.

Ähnlich wie Wes Montgomery spielt Jeff hauptsächlich mit seinem Daumen. Anders als Wes hat Jeff Beck aber einen “normal” geformten Daumen und etwas längere Fingernägel, die ihm einen schärferen Ton geben. Schnellere Passagen spielt er zuweilen mit Daumen und  Zeigefinger gleichzeitig, oder er tut sogar so, als hielte er ein Plektrum zwischen seinen Fingern, benutzt aber in Wahrheit seinen Zeigefingernagel als solches. Das Video, das ich ausgewählt habe, ist ein wenig kitschig, doch es veranschaulicht einige seiner übrigen Techniken recht gut.

  1. Ausdruck: Jeff beginnt mit einem Trick namens “violining”, bei dem er die Lautstärke der Note unmittelbar nach dem Zupfen anhebt und jede Note sanft in einem zarten Crescendo aufblühen lässt. Er tut das, indem er mit dem Ringfinger den Lautstärkeknopf manipuliert.
  2. Pitch-Bending (Tonhöhenbeugung): Während des größten Teils dieser Passage hält er den Whammy-Balken in Mittel- und Zeigefinger und verleiht seinem Spiel eine fast singende Fluidität.
  3. Artikulation: Jeff verändert die Klangfarbe und den Sound seines Spiels im Verlauf des Videos auf sehr subtile Weise. Manchmal spielt er Obertöne, die über dem Rest schweben, durchsetzungsfähigere melodische Linien mit seinen Nägeln oder knorrigere Töne, indem er seine Finger auf die Saiten “wirft”.

Das wahrhaft Besondere seiner Technik kommt jedoch dann zum Tragen, wenn er all diese Dinge gleichzeitig tut. Auf diese Weise entwickelt er einen sehr ausdrucksstarken Spielstil, der der Gitarre eine ganz neue Stimme verleiht (und das mit bemerkenswert wenigen Effekten).

Gitarren Picks sind großartig, und ich liebe es, ihre Durchsetzungskraft für mich zu nutzen. Aber wie diese drei Gitarristen zeigen, gibt es viel zu gewinnen, wenn man die Finger in Sachen Sound, Flexibilität und musikalischem Ausdruck trainiert. Lass also deine Picks in ihrer Schachtel und fang an, deine Finger zu bewegen!

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